"Wir werden die Anreizregulierung kritisch überprüfen" | Exklusives Interview mit Klaus Müller

Bonn (energate) - Die Bundesnetzagentur kann sich nach dem EuGH-Urteil aus dem Jahre 2021 auf einen Kompetenzzuwachs einstellen. Zugleich wartet die Energiebranche auf zentrale Weichenstellungen der Regulierungsbehörde. Im Interview mit energate sprach Präsident Klaus Müller über die Ängste vor einer Superbehörde, die Zukunft der Anreizregulierung und den Handlungsbedarf bei der Digitalisierung der Netze. 

energate: Herr Müller, durch das EuGH-Urteil zur Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur und die Umsetzung im Energiewirtschaftsgesetz kommen auf Ihre Behörde neue Aufgaben zu. Wie bereiten Sie sich darauf vor? 

Müller: Noch liegt zur Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes nur ein Entwurf vor. Den Kabinettsbeschluss erwarten wir Ende Mai. Dann wird unsere neue Aufgabenstellung konkreter. Wir wollen den politischen Beschluss - auch durch Bundestag und Bundesrat - abwarten. Klar ist aber, dass wir unsere künftigen Entscheidungen im engen Dialog mit sämtlichen Stakeholdern erarbeiten werden. Das tun wir jetzt schon bei der Festlegung zur Netzintegration steuerbarer Verbraucher, dem §14a EnWG. Das werden wir auch bei künftigen Entscheidungen so halten. Wir sind offen für gute Sachargumente, werden der Debatte darüber die nötige Zeit einräumen, erwarten aber auch eine qualifizierte Diskussion von allen Beteiligten. 

energate: Sie betonen Ihre Dialogbereitschaft. Unter Netzbetreibern wächst dennoch die Sorge, dass mit der Umsetzung des EuGH-Urteils eine Superbehörde entsteht, die den Rahmen für ihre Entscheidungen selbst festlegen kann. Ist diese Sorge berechtigt? 

Müller: Nein, keineswegs. 

energate: Wieso nicht? 

Müller: Erstens hat der EuGH einen rechtlichen Mangel festgestellt, nämlich die fehlende politische Unabhängigkeit der Bundesnetzagentur. Das Urteil beendet diesen Mangel, wir kommen also zu einer europäischen Normalisierung. Zweitens gelten alle Gesetze und die Leitlinien, die unsere Arbeit betreffen, weiter. Und drittens wird schon heute quasi jede unserer Entscheidungen gerichtlich überprüft, daran wird sich nichts ändern. Im Gegenteil: Wir gehen davon aus, dass wir unsere Entscheidungen künftig noch besser begründen müssen. Dass in Bonn eine Behörde entsteht, die tun und lassen kann, was sie will, halte ich für ein Hirngespinst. 

energate: Benötigt die Bundesnetzagentur ein neues Kontrollgremium? 

Müller: Nein, das sehe ich nicht so. Unsere Arbeit wird von Gerichten kontrolliert. Daneben geht es im Kern darum, dass wir Entscheidungen nicht ohne Rücksicht auf politische und gesellschaftliche Belange treffen. Und genau dafür gibt es den Beirat als Vermittlungs- und Kommunikationsakteur zwischen der Bundesnetzagentur und Politik und Gesellschaft. Es wäre also folgerichtig, diese Rolle des Beirats zu stärken. Denn es liegt auch in unserem eigenen Interesse, dass unsere Entscheidungen breit verstanden und kommuniziert werden. 

energate: Durch die EnWG-Novelle fällt mit der Anreizregulierungsverordnung auch das zentrale Instrument der Netzregulierung weg. Sie haben dazu bereits den Dialog mit der Branche initiiert. Viele Anpassungswünsche werden an Sie herangetragen. Zu welchen Veränderungen ist Ihre Behörde bereit? 

Müller: Also erstmal fällt die Anreizregulierungsverordnung ja nicht ersatzlos weg - nach dem Ressortentwurf gilt sie die vierte Regulierungsperiode noch weiter, mit Abweichungskompetenz. Das ist ein sehr vernünftiger Ansatz. Denn neben einer guten Regulierung brauchen Netzbetreiber, die investieren wollen und sollen, planbare Rahmenbedingungen. Ich will und kann der öffentlichen und fachlichen Debatte nicht vorgreifen. Nur so viel: Wir werden die Anreizregulierung, wie wir sie heute kennen, natürlich kritisch überprüfen. Es wird dabei um grundsätzliche Fragen gehen: Wie können Investitionsanreize für den Netzausbau erhöht und gleichzeitig die Kosteneffizienz gewahrt bleiben? Wie werden die Netze digitaler? Kann das Regulierungssystem vereinfacht werden? Viele sagen uns, das System ist zu langsam und sehr kompliziert. Andere wiederum schätzen die Planungssicherheit, die die eher langfristig ausgelegte Anreizregulierung gibt. 

energate: In der Vergangenheit diente die Netzregulierung in allererster Linie der Kosteneffizienz, sprich der Netzentgeltreduzierung. Passt das noch in die heutige Zeit, in der die Netze das Gerüst für den Umbau des Energiesystems sind? 

Müller: Die Bundesnetzagentur ist und bleibt die Behörde, die darauf achtet, dass die Netzentgelte bezahlbar bleiben. Die Netze bleiben natürliche Monopole - 870 Monopole, wenn man mal die Stromnetzbetreiber nimmt - da braucht es eine Regulierung. Andererseits müssen wir aber auch den Rahmen für die Beschleunigung des Netzausbaus, die Digitalisierung der Netze, den Erhalt der Versorgungssicherheit und den Weg in die Klimaneutralität setzen. Es gibt heute einen neuen Zielkanon und das Urteil des Europäischen Gerichtshofs gibt uns die Chance, das Regulierungssystem danach auszurichten und zu modernisieren. 

energate: Apropos Modernisierung: Wie zufrieden sind Sie mit der Digitalisierung des Energiesektors? 

Müller: Ehrliche Antwort? Auf einer Skala von null bis zehn maximal eine Zwei - wenn wir über Verteilnetze reden, die Übertragungsnetze sind schon weiter. 

energate: Ist der Regulierungsrahmen für die mangelnde Digitalisierung in Teilen des Netzes mitverantwortlich? 

Müller: Ich hatte bisher wenig Zeit zurückzublicken, und ich will auch lieber vorausschauen. Da ist es gut, dass in Kürze das neue Gesetz zum Smart-Meter-Rollout in Kraft treten wird. Das ist eine wichtige Grundlage für die Digitalisierung der Energiewende. Wir brauchen schlaue Netze. Mit dem Erreichten können wir definitiv nicht zufrieden sein. 

energate: Es gibt noch immer Verteilnetzbetreiber, die den Nutzen der Digitalisierung für sich nicht sehen. Auch Ihr Vorschlag zu §14a, der den Einsatz digitaler Technik erfordert, stieß in der Branche auf viel Kritik. 

Müller: Wenn wir bei der Digitalisierung weiter wären, könnte unser Vorschlag anders aussehen. Dem ist aber nicht so. In der Elektrifizierung des Verkehrs- und des Wärmesektors stecken große Chancen. Deshalb ist es unsere Aufgabe, zu ermöglichen, dass Klimaschutztechnologien wie Wärmepumpen und Ladeboxen an das Netz angeschlossen werden können. Das geht. Aber manchmal eben nur unter gewissen Komforteinbußen. Dort, wo die Netzbetreiber die volle Leistung etwas dimmen müssen, müssen sie zugleich Maßnahmen ergreifen. Dazu gehört der Netzausbau, aber auch die Digitalisierung. 

energate: Einen ersten Vorschlag zu §14a haben Sie mit der Branche konsultiert. Sie haben einen neuen Vorschlag angekündigt, wann werden Sie diesen veröffentlichen? 

Müller: Im Juni und dann hören wir erneut in die Branche hinein. 

energate: Ein anderes Thema, bei dem Sie mit vielen Sachargumenten konfrontiert werden, ist die Entscheidung Ihrer Behörde zur Festlegung der Eigenkapitalzinssätze. Es gibt dazu seit Monaten intensive Gespräche. Ist auch hier zeitnah mit einer Anpassung zu rechnen? 

Müller: Wir halten es für geboten, zumindest die Kabinettsbefassung der EnWG-Novelle abzuwarten, bevor wir uns dazu äußern. Klar ist aber, die Zeit drängt. Die Netzbetreiber erwarten Klarheit für ihre Investitionsentscheidungen. 

energate: Sie werden also in Kürze einen Vorschlag zur Erhöhung der Eigenkapitalzinsen vorlegen? 

Müller: Ja, wir werden einen Vorschlag machen, der dem gestiegenen Zinsniveau Rechnung trägt. 

energate: Herr Müller, Sie blicken seit Ihrem Amtsantritt vor 15 Monaten auf eine sehr bewegte Zeit mit vielen unerwarteten Herausforderungen zurück. Seit wenigen Tagen ist nun bekannt, dass Ihre Behörde auch beim Hochlauf der Wasserstoffnetze eine zentrale Rolle einnehmen soll. Halten Sie das für eine gute Idee? 

Müller: Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Bundesregierung beim Ausbau der Wasserstoffnetze jetzt auf's Gaspedal tritt. Wir bereiten uns bereits seit einigen Wochen darauf vor, auch in diesem Netzsegment Verantwortung zu übernehmen. Das wird eine sehr komplexe Herausforderung. Grundsätzlich ist es aber richtig, uns diese Aufgabe zu übertragen, denn perspektivisch werden sich bei den Wasserstoffnetzen die gleichen Fragen stellen wie bei den anderen Energienetzen. 

energate: Herr Müller, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Fragen stellten Christian Seelos und Rouben Bathke.