"Die Herausforderungen im Verteilnetz werden unterschätzt." | emw Interview

Das Interview mit Dr. Joachim Schneider, Bereichsvorstand Technik & Operations der innogy SE, führte energate-Redakteur Rouben Bathke.

Mit der zunehmenden Anzahl flexibler Erzeuger und Verbraucher wird auf absehbare Zeit die Komplexität des Stromsystems massiv steigen. Die Hauptlast dieser gewachsenen Komplexität werden die Verteilnetze tragen müssen. Das Sinteg-Projekt „Designetz“ erforscht deshalb Lösungen für das Verteilnetz der Zukunft. Nach zwei Jahren Laufzeit feierte das Projektkonsortium unter der Führung des Energiekonzerns Innogy nun Halbzeit. Dr. Joachim Schneider, Bereichsvorstand Technik & Operations der Innogy SE, zieht im Interview mit der e|m|w ein Zwischenfazit.

e|m|w: Herr Schneider, Sie haben kürzlich bei dem Sinteg-Projekt „Designetz“ Halbzeit gefeiert. Wie fällt Ihre Zwischenbilanz aus?

Schneider: Zunächst einmal ist Designetz von der abgedeckten Fläche, von der Zahl der Konsortialpartner und von den eingesetzten Technologien ein unglaublich spannendes Betätigungsfeld. Wir wollen in dem Projekt eine Blaupause für die Energiewende von morgen entwickeln. Unsere Ausgangsfrage war, wie wir den regionalen Ausgleich von fluktuierender Energie, die weiter zunehmen wird, erreichen können. Unser Projekt schaut dabei in das Jahr 2035. Das heißt, wir setzen die insgesamt 30 Teilprojekte heute real um und transponieren sie in das Jahr 2035, um zu schauen, wie ein solches Energiesystem in der Zukunft aussehen und funktionieren kann. Wir haben mit den drei Bundesländern Saarland, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen Regionen mit deutlich unterschiedlichen Strukturen: zum Teil sehr laststarke städtische Ballungsräume, aber auch ländliche Kreise mit teilweise sehr hoher Erzeugung aus erneuerbaren Energien. Wir setzen das Projekt mit insgesamt 46 Konsortialpartnern in allen drei Bundesländern um, die wir über eine „Route der Energie“ miteinander verbinden, um die Energiewende auch für die Bevölkerung erlebbar zu machen.

e|m|w: Um was geht es konkret bei Designetz?

Schneider: Kerngedanke von Designetz ist das Subsidiaritätsprinzip: Wir wollen die Herausforderungen der Energiewende möglichst schon auf den unteren Netzebenen lösen, um die notwendigen Ausbaubedarfe in den darüber liegenden Ebenen zu minimieren. So schaffen wir eine möglichst kosteneffiziente Umsetzung der Energiewende und erhalten den Rückhalt in der Bevölkerung. Für diesen Zweck haben wir mithilfe von Telekommunikations- und Informationstechnik sogenannte lokale Datenknoten aufgebaut, an denen die Projekte vor Ort angeschlossen sind. Dadurch ist es möglich, innerhalb einer Region die Flexibilitäten zu nutzen und so einen lokalen Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch herzustellen. All diese Datenknoten werden außerdem auf höherer Ebene aggregiert. Eine zentrale Frage des Projekts ist für uns, wie wir einen Stadt-Land-Ausgleich schaffen – besonders auf Ebene der Verteilnetze, also ohne Leistung nach oben in das Übertragungsnetz zu schieben. Dazu schauen wir konkret, welche Möglichkeiten wir auf lokaler Ebene haben. Das fängt in einzelnen Projekten in einer Straße an, wo wir schauen, wie wir die Flexibilitäten in einzelnen Haushalten nutzen, um einen Ausgleich auf Straßenebene zu ermöglichen. Genauso schauen wir auch, wie das auf Ebene einer Gemeinde funktioniert oder eben auf Ebene einer ganzen Region.

e|m|w: Was konkret unternehmen sie, um den regionalen Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch herzustellen?

Schneider: Das Spektrum an eingesetzten Technologien ist unglaublich groß. Wir haben unter anderem Batteriespeicher im Einsatz sowie Power-to-Heat-Anlagen, zudem nutzen wir Lastverschiebung in der Schwerindustrie. Besondere Bedeutung kommt dabei etwa der Kopplung des Elektrizitätssystems mit dem Wärmesektor zu – in kleinen Dimensionen im Hauswärmebereich bis hin zu Großanlagen, die ins Fernwärmenetz einspeisen. Wir nutzen auch über Power-to-Gas-Anlagen eine Kopplung mit dem Gassystem. Und wir haben in vielen Projekten auch die Elektromobilität im Blick und schauen, wie wir die Verknüpfung zwischen dem Stromsektor und dem Verkehrsbereich schaffen. Um aus der Stromwende eine echte Energiewende zu machen, wird eine intelligente Kopplung aller Sektoren enorm wichtig sein.

e|m|w: Bei der Halbzeitbilanz haben Sie der Öffentlichkeit das „System Cockpit“ vorgestellt. Was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff?

Schneider: Im System Cockpit aggregieren wir sämtliche Daten aus unseren Teilprojekten. Wir können so live und in Echtzeit alle Teilprojekte ansteuern und deren Verhalten testen. Auf dieser Basis simulieren wir im System Cockpit die Energielandschaft im Jahr 2035 und schauen, welchen Beitrag die unterschiedlichen Anlagen unter den Bedingungen von 2035 zur Systemstabilität beitragen können. Das heißt konkret, wir testen, welche Flexibilitäten sie dem Netz zu welchen Preisen zur Verfügung stellen können. So wollen wir konkrete Aussagen treffen, wie die Energiewende mit einem deutlich höheren Anteil erneuerbarer Energien im System funktionieren kann. Das System Cockpit ist dabei aber nicht als Ersatz für die klassische Leitwarte des Netzbetreibers gedacht. Seine Aufgabe besteht aktuell darin, uns wichtige Erkenntnisse technischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Art zu liefern.

e|m|w: Was genau ist die Herausforderung für das System im Jahre 2035?

Schneider: Wir stehen schon heute vor der Herausforderung, immer mehr erneuerbare Energien an das Netz anzuschließen, denn viele Solar- und Windparks werden ja in lastfernen Gebieten gebaut. Aus technischer Sicht ist die fluktuierende Einspeisung lösbar, aber in Zukunft werden die Herausforderungen größer, wenn wir nicht nur einen weiteren Ausbau der erneuerbaren Energie haben, sondern zugleich den Ausbau der Elektromobilität auf Verbraucherseite. Unser Bestreben geht also dahin, wie wir mit den Fluktuationen umgehen können, um den kostenintensiven Netzausbau zu vermeiden. Denn wir sind fest davon überzeugt, dass die Nutzung von Flexibilitäten nicht nur für die einzelnen Marktteilnehmer, sondern auch aus volkswirtschaftlicher Sicht das Optimum darstellt.

e|m|w: Wie verändert sich vor diesem Hintergrund die Rolle des Verteilnetzbetreibers? Schneider: Der Netzbetreiber muss künftig in der Lage sein, ein solches System technisch zu beherrschen. Die Rolle des Verteilnetzbetreibers wird in Zukunft also noch eine viel höhere Komplexität aufweisen durch die Steuerung und Überwachung von zehntausenden flexiblen Verbrauchern und Lasten. Im Vergleich zur Vergangenheit ist das ein komplett anderes System. Deswegen sprechen wir auch nicht mehr von Verteilnetzen, denn es geht nicht mehr um das bloße Verteilen von Energie. Die Verteilnetze sind vielmehr die Plattform, auf der die Energiewende stattfinden kann – durch die Anbindung und Kopplung der einzelnen Lösungen. Daher haben wir im Projekt Designetz den Ansatz gewählt, die Komplexität des künftigen Stromsystems zu orchestrieren. Dazu wollen wir die Plattform zur Verfügung zu stellen, die lokale und autonome Optimierungen in den Regionen möglich machen soll. Wir erheben dabei aber nicht den Anspruch, dass wir als Superkoordinator alle einzelnen Lasten steuern und kontrollieren müssen. Wir glauben vielmehr daran, dass wir dezentrale Intelligenz brauchen, die in der Lage ist, lokale Versorgungsengpässe auszuregeln und zu managen. Unser Ziel ist es, bei absehbaren Engpässen den Markt zu fragen, wer Flexibilitäten bereitstellen kann. Wir sind fest davon überzeugt, dass in Zukunft solche Märkte für Flexibilitäten entstehen werden.

e|m|w: Designetz soll als Forschungsprojekt auch Handlungsempfehlungen für die Politik und die Regulierung formulieren. Haben Sie schon erste Erkenntnisse in diese Richtung?

Schneider: Wir haben früh in dem Projekt drei wesentliche Themen ausgemacht: Zum einen glauben wir an ein sich selbst organisierendes System. Es wird in Zukunft nicht die eine Instanz geben, die beispielsweise 1,7 Millionen Solaranlagen oder hunderttausende von Elektroautos steuert. Das System wird sich dezentral selbst organisieren müssen. Wir brauchen daher weniger Regulierung als bisher und stattdessen mehr Marktmöglichkeiten. Bislang existieren solche Märkte für Flexibilitäten, etwa die Regelenergie, nur auf der Verbundebene. Uns beschäftigt die Frage, wie wir solche Flexibilitätsmärkte auch auf lokaler Ebene nutzen können. Wir werden außerdem über das Umlagen- und Abgabenregime und die Bepreisung einzelner Energieträger sprechen müssen. Viele Dinge, die wir in dem Forschungsprojekt umsetzen, haben in der realen Welt ein Wirtschaftlichkeitsproblem, da die unterschiedlichen Energieträger und Sektoren unterschiedlich behandelt werden. Und zu guter Letzt ist unser heutiges Regulierungssystem für Netzbetreiber so ausgelegt, dass es Investitionen begünstigt, aber nicht die Vermeidung von Investitionen. Wenn aber unser Ziel ist, durch deutlich mehr Intelligenz und Digitalisierung Netzausbau zu vermeiden, dann müssen wir auch das Regulierungssystem nach vorne denken und überlegen, wie wir entsprechende Anreize setzen können.

e|m|w: Sie beschäftigen sich in Designetz mit dem regionalen Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch. Von welchen Lastverschiebungspotenzialen, mit denen Sie im Verteilnetz arbeiten, gehen sie aus?

Schneider: Das abschließend zu beurteilen, ist sicherlich noch Zukunftsmusik. Wir haben aber in bereits realisierten Teilprojekten nachgewiesen, dass wir durch die Nutzung von Flexibilitäten und die Optimierung des Systems 25 bis 30 Prozent mehr fluktuierende Leistung ins System integrieren können, ohne das Netz ausbauen zu müssen. Am Ende des Tages steht aber auch die Frage, was man erreichen möchte. Die Aufgabe besteht zum einen darin, wie wir auf einer lokalen Ebene Leistungsspitzen – etwa durch Fotovoltaik oder die Elektromobilität – in den Griff bekommen, und zum anderen, wie ein Stadt-Land-Ausgleich gelingen kann. Diese Fragen beschäftigen uns in der nächsten Projektphase.

e|m|w: Der Ausbau der Stromnetze steht auch in der Politik auf der Agenda, dort geht es aber hauptsächlich um große Trassen. Wie bewerten Sie vor dem Hintergrund des Projekts diese Prioritätensetzung?

Schneider: Es stimmt, dass es in der heutigen Diskussion um den Netzausbau leider hauptsächlich um die großen Nord-Süd-Trassen im Übertragungsnetz geht, während die Herausforderungen auf Verteilnetzebene immer noch unterschätzt werden. Dabei liegt der größere Teil der Ausbaunotwendigkeit im Verteilnetz, worauf in der Vergangenheit auch Studien mehrfach hingewiesen haben. 95 Prozent aller EE-Anlagen werden bekanntlich an das Verteilnetz angeschlossen. Und auch die Elektromobilität ist in ihrer Gänze ein Thema des Verteilnetzes. Die großen Herausforderungen beim Netzausbau beziehungsweise -umbau liegen also dort. Aus unserer Sicht liegt die Lösung dabei in der Nutzung von Flexibilitäten und der intelligenten Steuerung. Diesen Weg beschreiten wir, um hierfür die richtigen Lösungen zu finden.

e|m|w: In der Debatte um das Stromnetz der Zukunft geht es auch um die Nutzung von Speichern durch Netzbetreiber. Wie ist ihre Position?

Schneider: Wir sind der Überzeugung, dass auch für den Netzbetreiber ein Speicher in bestimmten Situationen einen Lastenausgleich bewerkstelligen kann. Wir nutzen etwa in einem Teilprojekt einen Batteriespeicher, der Flexibilität bereitstellt, mit der Netzengpässe als Puffer solange aufgelöst werden, bis wir die neue Leitung gebaut haben. Denn häufig ist ja das Problem, dass wir im Leitungsneubau lange Vorlaufzeiten haben. Ist die Leitung fertig errichtet, kann der Flexibilitätsanbieter den Speicher auf einen LKW setzen und an anderer Stelle wieder einsetzen. Für mich ist ein Speicher aber kein Mittel des regulierten Betriebs. Unsere Botschaft ist, dass wir die Flexibilität aus Speichern brauchen.

e|m|w: Zum Schluss noch mal ein Blick auf Designetz: Wie sehen die nächsten Schritte in dem Projekt aus?

Schneider: Wir gehen von der Realisierung der einzelnen Teilprojekte auf die Systemebene. Unser Ziel ist es, bis Ende des Jahres sämtliche Komponenten an unser System anzuschließen, sodass wir aus der Bauphase in die Umsetzungsphase kommen. Dann können wir die Interaktion der Teilprojekte untereinander und die Potenziale der einzelnen Flexibilitäten testen und bewerten. Wenn wir Ende des Jahres alle Anlagen aufgeschaltet haben, dann haben wir noch gut ein Jahr Zeit, um im Gesamtsystem noch zu Erkenntnissen zu kommen. Wir freuen uns auf die anstehenden Aufgaben, denn jetzt gehen wir in der Komplexitätsstufe noch eine Stufe höher.

e|m|w: Herr Schneider, herzlichen Dank für das Gespräch!

Hier geht es zur aktuellen Ausabe der emw