Interview der Woche | "Als würden wir links fahren, während sie in der EU rechts fahren."

Die Schweiz und die EU reden nach dem Abbruch der Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen zumindest wieder miteinander. Maurice Dierick, Leiter Markt bei Swissgrid, erklärt im Interview mit dem energate messenger Schweiz, warum er bezüglich eines Stromabkommens trotzdem pessimistisch ist.

energate: Es gibt wieder Kontakt zwischen der EU und der Schweiz. Spürt man bei Swissgrid etwas davon, dass Bewegung in die Sache gekommen ist?
 
Dierick: Noch nicht. Bei uns sind die Kontakte nach wie vor eingefroren. Wir haben immer gesagt, wir seien offen für Verhandlungen und für eine konstruktive Lösung. Aber meine Wahrnehmung ist: Das muss jetzt erst einmal politisch so weit kommen, dass man die Gespräche wieder auf Fachebene führen darf. Das wird seine Zeit dauern.
 
energate: Das heisst, die Kontakte finden vorerst nur auf höchster Ebene statt?
 
Dierick: Ja, die Fachbereiche müssen zuerst die Zustimmung von politischer Ebene erhalten, um Gespräche führen zu können.
 
energate: Die Schweiz wollte das Stromabkommen aus der Verhandlungsmasse rund um das institutionelle Rahmenabkommen nehmen. EU-Vizekomissionspräsident Maros Sefcovic argumentierte jedoch, das gehe aus rechtlichen Gründen nicht.
 
Dierick: Genau. Dann wären die institutionellen Fragen nicht geklärt. Und die EU ist seit 2014 ganz klar auf der Linie, dass sie nicht mehr über Teilabkommen verhandelt, wenn nicht zuerst die ganzen institutionellen Fragen geklärt sind.
 
energate: Wäre es auch der Wunsch von Swissgrid, das Stromabkommen einzeln zu verhandeln?
 
Dierick: Ja, aber Brüssel lehnt dies ja ab.
 
energate: Wie erlebt Swissgrid diese verfahrene Situation?

Dierick: Sie bindet sehr viele Ressourcen. Da wir keine gesetzliche oder keine regulatorische Basis haben, um die Anbindung in die neuen Regularien auf EU-Ebene zu organisieren, muss man eigentlich in jedem Bereich alles neu erfinden. Stark betroffen sind die Regulierung Capacity Allocation & Congestion Management (CACM), Electricity Balancing Guideline (EBGL) und die System Operations Guideline (SOGL). Die SOGL beschreibt, wie wir das System betreiben und die operativen Sicherheitsanalysen vornehmen müssen. Sie verweist bei den Sicherheitsanalyse auf die CACM, also auf die Kapazitätsberechnungen. Darin steht, dass die Schweiz von der Teilnahme an den Day-Ahead- und Intraday-Kapazitätsmechanismen ausgeschlossen ist. Ich muss also eine Sicherheitsberechnung machen auf Basis einer anderen Regulierung, in der ich nicht drin bin. Da haben wir im Augenblick sehr viel Aufwand, um zu schauen, dass zumindest der technische Teil, also die Kapazitätsberechnung, das Schweizer Netz berücksichtigt. Die Kapazitätsallokation - das ist Marktzugang. Davon sind wir ausgeschlossen. Das ist sehr viel Aufwand, denn in der EU wird das Flow-Based-Market-Coupling eingeführt. Die Schweizer Grenzen werden noch auf dem Konzept der Net-Transfer-Capacity betrieben. Wir versuchen, Lösungen zu finden, wie man diese beiden Modelle irgendwie zumindest technisch koppeln kann, sodass man auf beiden Seiten der Grenze über die gleichen Netzkapazitäten diskutiert und die gleichen Engpässe. Um zur SOGL zurückzukommen: Darin steht die Grundregel für den Systembetrieb. Das haben wir als Swissgrid mit Genehmigung der Elcom unterschreiben dürfen, weil hier keine schleichende Übernahme von EU-Recht drin ist. Da hat man nicht das Risiko, dass man gegen demokratische Regeln verstossen würde. Das ist reine Technik, und die ist logisch nachvollziehbar. Das hat für uns die Auswirkung gehabt, dass wir den Transmission Code im vergangenen Jahr (2020) anpassen mussten. Der neue Transmission Code ist deckungsgleich mit den EU-Anforderungen. Das ist so weit abgeschlossen, aber wir müssen schauen, wie er sich mit der Zeit weiterentwickelt. Es gibt aber noch das Thema Sicherheitsberechnungen. Und weiter stellt sich die Frage, wie es mit der Regelenergie weitergeht.
 
energate: Inwiefern?

Dierick: Bei den 50 Hertz muss ich Primär-, Sekundär- und Tertiärregelung haben. Das war bis jetzt auf freiwilliger Basis pro Land und teilweise auch in internationalen Kooperationen geregelt. Jetzt ist dies alles durch diesen EBGL ersetzt. Dieser enthält drei grosse Plattformen: Picasso, Mari und Terre. Picasso ist sekundäre, Mari manuelle, also schnelle Tertiärregelung und Terre die langsame Tertiärregelung. Hier muss die EU-Kommission aufgrund der Vorgaben der EBGL entscheiden, ob die Schweiz an diesen Plattformen teilnehmen darf. Bis jetzt hat sie diesen Entscheid noch nicht getroffen und stellt sich auf die Position, dass die Schweiz nicht teilnehmen darf. Wir haben diesbezüglich beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) Klage eingereicht. Diese Klage ist aktuell noch hängig. Es ist zurzeit noch nicht klar, wie sich das auf die weitere Teilnahme bei Mari und Picasso auswirkt. Der Go-Live ist für das zweite Quartal 2022 vorgesehen. Wir arbeiten aber daran, dass wir da teilnehmen können.
 
energate: Was wären denn die Bedingungen für die Teilnahme?

Dierick: In der EBGL steht, dass es entweder ein Stromabkommen braucht oder die Nicht-Teilnahme der Schweiz dazu führt, dass es so ungeplante Flüsse gibt, die die Systemsichersicherheit in der Region gefährden würden. 

energate: Was würde es bedeuten, wenn der EuGH der EU bezüglich Terre Recht gäbe?

Dierick: Wenn der EuGH der EU Recht gibt, müssen wir uns überlegen, ob wir das mit den technisch gleichen Produkten über den integrierten Markt in der Schweiz lösen können. Wir müssten dann mit unseren Nachbarn einen privatrechtlichen Vertrag abschliessen, der es uns ermöglichen würde, doch noch in irgendeiner Form teilzunehmen. Oder wir müssten uns etwas ganz Neues einfallen lassen, wie wir dann diese Regelenergieprodukte, wie sie in der EU definiert sind, so in der Schweiz auch handhaben können, dass die Systeme miteinander kompatibel bleiben. Das ist meine grosse Sorge. Es ist eine Sache, wenn wir rechtlich ausgeschlossen werden. Aber es hilft mir nicht, wenn man zwischen Frankreich und Deutschland alle vier Sekunden die Netzsicherheit berechnet und auf dieser Basis Sekundärregelenergie einsetzt, die auch über die Schweiz fliessen könnte, während ich ein System habe, das auf einer ganzen anderen Basis funktioniert. Ich muss irgendwie gewährleisten, dass das, was wir in der Schweiz machen, zumindest technisch völlig kompatibel ist. Sonst habe ich das Problem der ungeplanten Lastflüsse.
 
energate: Heisst also, ein solcher Entscheid der EU wäre ein grosses Problem.

Dierick: Ja, wir müssten dann eigentlich das Rad neu erfinden. Auch wenn man ein System bauen könnte, das mit den europäischen Plattformen eine Schnittstelle hat - es wäre nie dasselbe System. Ich könnte mir also nicht sicher sein, dass ich auf genau derselben technischen Basis wie unsere Nachbarn das Netz beobachte. Es ist etwa so, als würden wir in der Schweiz auf der Strasse links fahren, während sie in der EU rechts fahren. Beim Grenzübergang bei Basel schauen wir dann einfach, dass es keine Kollision gibt.
 
energate: Gibt es noch andere Regelungen, die Ihnen Kopfzerbrechen bereiten?

Dierick: Es gibt noch die Regelung des Clean Energy Package. Die drei Network Codes stammen aus dem dritten Paket, auf dem auch das Stromabkommen basierte. Die EU ist aber schon beim vierten Paket, das beim Stromabkommen noch gar nicht berücksichtigt ist. In diesem vierten Paket sind auch wieder Aspekte enthalten, die für Mehraufwand und für komplizierte Abstimmungsprozesse sorgen, etwa die System Operation Region. Das ist die Betriebsregion Zentraleuropa. Wir gehören nicht dazu, da es kein Stromabkommen gibt. Wir sind dabei, privatrechtliche Verträge mit den Nachbarn zu schliessen, damit wir zumindest als Beobachter teilnehmen dürfen. Wir können zwar nicht mitentscheiden, aber wir könnten dann zumindest unsere technischen Punkte einbringen. Es gibt in diesen System Operations noch Regional Coordination Centers. Hier stellt sich die Frage: Bis zu welchem Grad dürfen Nicht-EU-TSOs beteiligt sein? Am Ende des Tages muss eine Systematik entstehen, die sich ROSC nennt - Regional Operation Security Coordination. Die Grundideee ist, dass die ganzen Netzstabilisierungsmassnahmen koordiniert für eine System Operation Region gemacht werden sollen und nicht mehr pro Land. Das ist alles in der Entwicklung. Wir sind im Augenblick noch bei der Projektarbeit dabei. Wie es aber bei der operativen Umsetzung weitergeht, ist die Frage. Denn Brüssel wird sich fragen, ob die Schweiz indirekten Marktzugang erhält, wenn sie bei der Umsetzung dieser Prozesse mitmacht.

Die Fragen stellte Michel Sutter.

Hier geht es zum zweiten Teil des großen energate-Interviews mit Maurice Dierick